Die Fußballweltmeisterschaft
befindet sich in ihrer ganz heißen Phase. Die Spieler geben in den K.o.-Spielen
alles, egal ob sie sich in der Blüte oder schon im Herbst ihrer Karriere
befinden. Ich befinde mich im Winter – in doppelter Hinsicht. Auf der einen
Seite bedeuten mehr als zehn Monate in Peru mittlerweile den Winter meines
Auslandsjahres. Auf der anderen Seite herrscht in Peru tatsächlich Winter. Es
ist viel passiert. Sommer: Das bedeutet für einen Fußballer sein Karriere-Höhepunkt.
Sei es mit Blick auf seinen aktuellen Karrierestandpunkt im Jahreszeiten-Format
oder aber in Anspielung auf Großereignisse wie eben jene Weltmeisterschaft. Im
Fußballer-Vergleich sind meine Sommer-Schlagwörter `Jahres-Halbzeit´ und
´Sommerprogramm´.
Letzteres ist in der ACJ (so heißt hier der CVJM) in meinen
Augen tatsächlich ein Großereignis. Während des Sommerprogramms in den Monaten
Januar und Februar herrschen Schul- und Semesterferien. Die ACJ ist überfüllt
von Menschen. Es gibt unzählige zusätzliche Programme und Angebote, so dass wir
Volontäre einen vollen und gleichzeitig abwechslungsreichen Stundenplan haben.
Viele Menschen, das ist
wichtig für die Peruaner. Eben so wichtig wie eine große tolle Show. Für mich
ist es manchmal zu viel Show mit zu wenig Tiefgang. Umso glücklicher war ich,
dass ich – ganz peruanisch – 20 Minuten vor dem Beginn zusammen mit einer
Mitvolontärin die Leitung von „Freunde von Jesus“ an einem Nebenstandort
übertragen bekam, wo wir fortan für drei Wochen ganz frei nach unseren Ideen
arbeiten konnten. „Freunde von Jesus“ ist ein Unterprogramm im Kinderprogramm
(sechs bis maximal 15 Jahre), welches in Form eines Stationslaufs durchgeführt
wird. Die einzelnen Altersgruppen durchlaufen nacheinander verschiedene,
45-minütige Programme wie beispielsweise Schwimmen, Kochen, Sport und eben
„Freunde von Jesus“. In dem von uns mit Spielen, Liedern, Andacht und Gebet
jungscharähnlich aufgebauten Programm fand ich erstmals richtige Begeisterung
für die Arbeit mit Kindern. Bis dato begeisterte mich vornehmlich die Arbeit
mit Jugendlichen.
Begeistern tat mich auch
eine andere Arbeit. Ein Großereignis. Oder besser gesagt: ein „Hochereignis“.
An den Wochenenden arbeitete ich nämlich im Hochseilgarten der ACJ, der im
Übrigen nach den Plänen des Hochseilgartens des CVJM Karlsruhe gebaut wurde.
Gurte an- und ablegen, sichern, motivieren, und kleine Reparaturarbeiten in bis
zu zwölf Metern Höhe waren hier meine Tätigkeiten.
Die große Show und der
richtige Sommer kam für mich im Februar. Ich wechselte an den ACJ-Strand, an
dem zwei- bis viertägige Kinder- und Jugendfreizeiten durchgeführt werden. Tage
am Strand, das sind meist 19- oder 20-Stunden-Tage ohne größere Pause. Die
Freizeiten werden derweil in Form einer Geschichte durchgeführt, die über die
gesamte Dauer erzählt wird. Einige Mitarbeiter – das Mitarbeiterteam besteht
mindestens aus acht Personen – spielen dabei Charaktere aus der Geschichte und
leiten so die verschiedenen Aktionen wie Gruppenspiele, Lagerfeuer mit Tanz und
Gesang, Schwimmen, Touren durch die angrenzenden Grotten, Andachten,
Übernachtungen in den Sanddünen oder Sandboarding an. Besonders wenn man so
intensiv mit Peruanern zusammenarbeitet, merkt man, dass man einem Großteil der
Peruaner Unpünktlichkeit vorwerfen kann – und ja, auch ich habe diese Sitte
längst übernommen. Aus der Unpünktlichkeit resultiert allerdings auch eine ganz
andere Gabe, die mich besonders bei meiner Arbeit am Strand immer wieder
beeindruckt hat: Eine Spontaneität, dessen Resultate in Deutschland sicherlich
einiges an Vorbereitung bedurft hätte.
Der Spätsommer kam und ich
verließ den Strand in Richtung Zwischenseminar. Gefolgt vom dreiwöchigem
Urlaub, der mich durch halb Peru führte. Höhenkrankheit, einem mit
Mückenstichen übersätem Körper und abenteuerlichen Verkehrsmitteln zum Trotz
führte mich meine Reise durch die drei verschiedene Klimazonen des traumhaften
und atemberaubenden Perus.
Allmählich kam die Kälte,
mit ihm der Herbst und somit auch neue Programme. In einem reicheren
Stadtviertel Limas eröffnete eine neue ACJ. Hier wollte ich mit mehreren
Mitvolontären eine christliche Gruppe für junge Erwachsene eröffnen. Vorbild
war eine ähnliche Gruppe in der Haupt-ACJ, zu der durchschnittlich 40 junge
Erwachsene erscheinen. Wir waren hoch motiviert. Doch schon bald machte ich
eine ähnliche Erfahrung wie bei den Jugendfreizeiten am Strand. Umso
wohlhabender die Leute sind, desto weiter wird das Thema Glauben an den Rand
geschoben – und das in einem, auf dem ersten Blick streng katholischem Land.
Mittlerweile ist es Winter,
die neu gegründete Gruppe gibt es mangels Teilnehmer nicht mehr und ich lebe
seit sechs Wochen in einer anderen Stadt. Trujillo heißt mein neues Zuhause,
welches sich circa acht Busstunden nördlich von Lima befindet. In der kleinen,
zwischen der Panamericana, einem Gefängnis und einer Müllkippe liegenden ACJ
fehlt es an Freiwilligen. So beschloss ich mich, zusammen mit meinem
Mitvolontär Nico, für zwei Monate meine Zelte nochmals an einem anderen Ort
aufzubauen. Lust auf Trujillo verspürte ich dabei im Vorfeld definitiv nicht.
Zu sehr hatte ich mich in Lima eingelebt, Freunde gefunden und besonders meine
Arbeit ins Herz geschlossen. Bereuen tue ich meine Entscheidung aber auf keinen
Fall. Die Arbeit in Trujillo ermöglicht mir vielmehr noch einmal einen ganz
anderen Blick auf das Land, die Armut (siehe Bericht „Zwei Welten“) und die Menschen. Letztere kann ich hier viel
intensiver kennen lernen, da ich täglich mit den gleichen Kindern und
Jugendlichen zu tun habe.
Und einen
weiteren Vorteil bietet mir meine Arbeit in Trujillo. Dank eines großen
Gestaltungsfreiraums und sowohl verständnisvollen, wie auch ebenfalls
fußballbegeisterten Chefs kann ich die Weltmeisterschaft fast perfekt
verfolgen. Schon oft habe ich mir die Frage gestellt, was wäre, wenn Peru bei
dieser Weltmeisterschaft vertreten wäre. Ich glaube, es wäre die reinste Feier.
Das Interesse an der WM ist riesig. An jedem Fernseher läuft Fußball und die
Menschen sind super informiert. Es fasziniert mich immer wieder, wie sich die
Peruaner mit uns oder anderen
Nationen freuen. Zum Teil bekommen wir noch Tage
nach einem Sieg Gratulationen. Und ich merke, wie wichtig der Fußball für das
deutsche Erscheinungsbild im Ausland ist. Als Europäer wird man zwangsläufig
andauernd nach seiner Nationalität gefragt. Als Reaktion auf meine Antworte
bekomme ich bei den älteren Peruanern oft Begriffe wie Nazi, Hitler oder Heil
Hitler an den Kopf geworfen – was zum Teil nicht unbedingt böse gemeint ist.
Die Jüngeren fangen derweil sofort an über den deutschen Fußball zu schwärmen.
Und wenn dann doch einmal vorsichtig eine Frage zum Dritten Reich gestellt
wird, kann man auch Dank der Migrationshintergründe einiger Nationalspieler
sehr gut erklären, dass sich die absolute Mehrheit der Deutschen auf das
Schärfste vom Nationalsozialismus distanziert. Was der Fußball dahingehend
bereits geleistet hat, sieht man besonders gut auf den Straßen von Peru:
Deutschland-Trikots oder T-Shirts in den deutschen Farben und mit der Aufschrift
„Alemania“, „Germany“ oder „Deutschland“ sieht man hier mit Abstand am
Häufigsten – schon bevor die ganz heiße Phase der Weltmeisterschaft begonnen
hatte.