Tag der Entscheidung
Es ist der 22. Februar.
Draußen vor den Türen der Geschäftsstelle der CVJM AG in Kassel schneit es
schon den ganzen Tag. Die Uhrzeiger stehen ungefähr auf 17:30 Uhr und ich gucke
zusammen mit zehn anderen Bewerbern auf die Tür, welche sich gleich für die
Entscheidung öffnen wird. Die Stimmung ist mittlerweile nicht mehr fröhlich
sondern angespannt. Zulange – die ersten seit 13:30 Uhr – sitzen wir schon
zusammen, unterhalten uns, lernen uns kennen und wachsen als Gruppe zusammen,
während immer zwei von uns zum Bewerbungsgespräch gebeten werden. Die
Gewissheit, dass mindestens einer von uns nicht genommen werden kann, ist
deshalb sehr bedrückend. Für mich sind die mir vorher völlig Fremden längst
keine Mitbewerber mehr, sondern Teil eines Teams, mit dem ich unbedingt meinen
großen Traum leben möchte.
Die Tür geht auf. Zwei von uns werden herein gebeten. Ich warte
mit den anderen weiter vor der Tür. Wenig später kommen die Beiden nach draußen
– niedergeschlagen. Im Vorbeigehen sagt uns einer der Beiden, dass wir genommen
sind – sie nicht. Ich gucke in die Gesichter der Anderen. Keiner freut sich.
Ich habe grade die Nachricht bekommen, für die ich die letzten Wochen täglich
gebetet habe, aber kann mich nicht freuen. Nun werden auch wir in den
angrenzenden Raum gelassen. Die Gesichter klaren beim Ein oder Anderen langsam
auf, während wir uns nebeneinander in eine Reihe stellen. Und da kommt die
Botschaft auch offiziell: Ihr fahrt für ein Jahr nach Peru! Jetzt ist sie auch
bei allen endgültig da - die Freude. Es folgen Glückwünsche und Telefonate in
die Heimat, doch begriffen habe ich mein Glück noch nicht.
Wir brechen
schließlich auf zum Weltweit-Wochenende der CVJM AG, das eine halbe Autostunde
entfernt unserer erster Vorbereitungstermin sein wird. Gestaltet wird das
Wochenende vornehmlich von den alten Peru-Volontären, die uns ausgiebig über
ihre Erfahrungen berichten und sich jederzeit mit Fragen löchern lassen. Von
unseren „Vorgesetzten“, die wir längst duzen, bekommen wir alle weiteren wichtigen
Infos und so langsam aber sicher realisiere auch ich, dass Peru nichts mehr im
Wege steht. Die ersten Peruaner habe ich indes auch schon kennen gelernt, da
auf dem Weltweit-Wochenende auch Deutschland-Volontäre aus Peru, Togo,
Kolumbien, Slowakei und der Ukraine vertreten sind. Und, so viel kann ich schon
sagen, die offene, spontane und lustige peruanische Art gefällt mir sehr gut.
So sind es meist die Peruaner Diego und Victor, die zwischen oder während des
Programms, welches unter anderem aus Workshops, Gottesdienst oder Lobpreis
besteht, für gute Stimmung sorgen.
Am Sonntag nach dem Mittagessen beginnt dann leider die Heimfahrt.
Meine Euphorie könnte derweil größer kaum sein. Negativer Nebeneffekt: Für die
in zwei beziehungsweise vier Tagen anstehenden Abitur-Vorklausuren fehlt mir
jegliche Motivation zum Lernen – mit meinem Zeitplan hänge ich eh schon
mindestens drei Tage hinterher. Und so holt mich der Schulalltag, spätestens
aber die Ergebnisse der Vorklausuren, die, wie zu erwarten war, zum Teil weit
hinter meinen Möglichkeiten liegen, auf den Boden der Tatsachen zurück.
Jetzt aber ist die Schulzeit vorbei und ich habe genug Zeit, neben
dem Lernen für das Abi meine wiederkommende Peru-Euphorie freien Lauf zu lassen
und die Planung und Organisation für mein Auslandsjahr voran zu treiben.